Am nächsten Morgen machte sie Frühstück. Stefan langte tüchtig zu.
„Ich habe heute noch viel vor“, sagte er, während er ein Stück dunkles Brot abbiss. Greta grinste.
„Und was bitteschön?“
„Ich gehe in den Wald mit den Lehrlingen.“
Sie nickte wissend.
„Magst du heute abend mit mir essen?“
Er blickte sie unverwandt an.
„Weisst du, Greta. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du spielst mit mir. Ich mag das nicht. Dich mag ich sehr, aber ich eigne mich nicht fürs Schlafen im einsamen Bett.“
Greta schossen die Tränen ins Gesicht.
„Dann geh doch einfach besser.“
Er stand auf, nahm die Schlüssel seines Wagens und ging.
Greta blieb zurück.
Sie war beileibe nie eine romantische Seele gewesen. Wer mit ihr ausging, brauchte weder Rosen noch Champagner zu kaufen. Sie war knallhart gewesen. Sexy. Jeder ihrer Ex-Freunde hatte von ihrer Ausstrahlung geschwärmt. Ihrem hübschen Hintern, der Art und Weise, wie sie zu diskutieren pflegte. Keiner hatte sich je beschwert, was ihre Leidenschaft anging. Sex war für sie ein Hobby, kein notwendiges Übel, sondern ein Mittel zum Abbau von Frust und Sex. Sie hatte es geliebt, in Hotelzimmer zu gehen, zu baden und stundenlang herum zu vögeln. In jüngeren Jahren war es kein Thema für sie, es in einer Garderobe oder einem öffentlichen WC zu tun.
Doch seit der Vergewaltigung gab es in ihr nichts mehr, was nach Sex schrie. Bis sie Stefan getroffen hatte. Es war seltsam, so als wenn ihr Körper ein alter Baum wäre, der sich danach sehnt, dass es wieder Frühling wird und er wieder Knospen treibt.
Sie war plötzlich wütend auf Stefan, alle Männer dieser Welt und auf sich.
„Vielleicht hätte ich es ihm erklären sollen“, durchfuhr es sie. Im nächsten Moment verwarf sie diesen Gedanken. Wozu sollte sie ihm von ihrer Pein erzählen?
Sie nahm Renas Leine und ging mit ihr nach draussen. Rena tollte herum und jagte Stöcke, ohne müde zu werden. Die Katze sass auf dem Fensterbrett und blickte den beiden neugierig zu.
Nach dem Spaziergang setzte sie sich ans Laptop. Ihr Chef hatte ihr eine Entschuldigungsmail geschrieben. Es tat ihm leid. Er rechtfertigte sein Verhalten mit Eheproblemen. Sie nickte wissend.
Er schrieb, er würde sie gerne weiter vermitteln, damit sie nicht mehr mit ihm zusammen arbeiten müsste, obwohl er das alles sehr bedauerte. Sie dachte darüber nach. Was wollte sie wirklich?
Sie schrieb ihm zurück, dass sie die Sache vergessen wollte, wenn er sie nicht mehr mit privaten Dingen behelligte. Noch am selben Tag erhielt sie weitere Aufträge.
Am nächsten Tag fuhr sie zu Dora ins Tal hinab. Diese blickte sie neugierig an.
„Was ist eigentlich bei euch oben geschehen?“
„Was meinst du mit „euch“?“
„Na, den hübschen Jäger und dich.“
Greta wurde rot. Vor Wut.
„Da ist überhaupt nichts.“
Dora grinste.
„Dafür bist du aber gerade sehr emotional.“
„Er wollte, dass ich unter seine Decke schlüpfe.“
„Und?“
„Ich habs natürlich nicht getan.“
„Du dämliche Kuh.“
Greta verwarf die Hände.
„Bitte nicht du auch noch.“
„Was an diesem Mann passt dir nicht? Seine tollen Augen? Sein gutaussehender Körper? Sein wunderbarer Hintern?? Alle Mädchen des Dorfes beneiden dich. Du solltest zugreifen und jede Pore seines Körpers auskosten.“
„Dora!“
„Sei doch bloss nicht päpstlicher als der Papst, Greta. Er ist nicht nur gutaussehend, der Junge hat ein gutes Herz, ist intelligent und er erträgt deinen Wolf.“
„Das ist ziemlich unpassend.“
„Bist du prüde oder was?“
In jenem Moment explodierte Greta. Sie schleuderte ihr die gesamte, traurige, furchtbare Wahrheit an den Kopf.Sie schrie ihren Schmerz hinaus. Die Verzweiflung. Die Verletzung. Dora erstarrte. Dann schluchzte.Sie umarmte Greta und weinte.
Greta weinte auch. Die beiden Frauen hielten sich eine ganze Weile fest umschlungen.
„Es tut mir leid“, schniefte Dora.
„Mir auch“, schluchzte Greta.
„Komm, wir nehmen einen Kaffee.“
Sie setzten sich im Hinterzimmer auf ein durchgesessenes Sofa.
„Ich hab nichts davon gewusst. Aber ich hab deine Geschichte in der Boulevardzeitung gelesen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass du das bist.“
Greta nickte.
„Ich bin so traurig.“
Dora tätschelte ihre Hand.
„Es ist doch nicht zu spät. Sei offen zu ihm. Sag ihm alles. So wie ich ihn kenne, wird er damit umgehen können und lieb zu dir sein. Hab keine Angst.“
Drei Stunden und gefühlte 10 Tassen Kaffee später fuhr Greta nach Hause. Sie führte Rena aus und fütterte die Katze.
Sie dachte lange nach, was sie nun tun würde. Sollte sie ihn aufsuchen oder nicht? War sie bereit? Sie zog sich um, tauschte die Alltagskleider gegen eine schöne Jeans und eine weisse Bluse aus. Sie kämmte ihr Hand und band sich ein frisches Tuch um den Hals, damit ihre Narbe nicht sofort sichtbar war. Dann fuhr sie zurück ins Dorf.
Stefan wohnte inmitten des alten Dorfkerns in einem schönen alten Chalet. Licht brannte. Also war er zuhause.
Sie klingelte an der Türe und wartete. Es dauerte einige Minuten, bis Stefan die Türe öffnete. Er trug einen Morgenmantel, sein Haar war etwas lädiert. An seinem Hals leuchtete ein Knutschfleck. Sie räusperte sich, wollte gerade etwas Belangloses sagen, als sie die Stimme einer Frau hörte.
„Schätzli, komm zurück. Mir frieren hier langsam die Nippel ab.“
Greta erstarrte. Stefan blickte peinlich berührt. Sie holte aus und knallte ihm eine. Dann fuhr sie nach Hause.
Daheim angekommen hatte sie fünf Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter. Stefan. Stefan, der sich entschuldigte, der erklären wollte, der langsam ausnüchterte. Stefan, der sich nicht mehr wiedererkannte. Stefan. Scheiss drauf.
Die Katze und der Wolf lagen schlafend in ihren Kistchen, als Greta den Fernseher anstellte. Sie hatte die Schnauze voll.