17. Auskotzen

Am nächsten Tag arbeitete sie nicht an ihren Aufträgen. Sie schrieb. Seitenweise schrieb sie, was sie umtrieb, wütend machte, wahnsinnig machte. Sie schrieb die Geschichte ihrer Vergewaltigung. Sie beschrieb ihre Gefühle, ihre Verwirrung, ihren Ekel vor sich selbst und vor Männern. Ein paar Stunden später sass sie da, erschöpft, aber befreit. Sie legte sich auf den Boden und liess sich die Sonne auf die Nase scheinen. Die Katze und der Wolf platzierten sich neben sie.

Mittags gingen sie spazieren. Rena tollte herum. Sie setzten sich auf die Wiese, auf der zaghaft die ersten Löwenzahnblüten spriessten. Rena blickte in die Ferne.

Greta streichelte die junge Wölfin.

Sag mal, willst du nicht endlich frei sein?“

Rena schmuste mit ihrer Hand.

Wenn du gehen willst, irgendwann. Ich halt dich nicht auf.“

Die junge Wölfin berührte sie mit der Schnauze.

Greta heulte. Die Wölfin tat es ihr nach.

Dann gingen sie wieder nach Hause.

Die nächsten Wochen waren geprägt von Schreibanfällen von Greta, stundenlangem Wandern mit Rena und gelegentlichen Besuchen bei Dora.

Der war die Geschichte von Stefan natürlich bereits zu Ohren gekommen. Sie fand das alles sehr schlimm.

Mein Gott, Männer. Ein Mal können sie nicht so, wie sie wollen, und dann muss er sein Dings gleich in der Serviertochter vom Schwanen versenken. Was für ein Dummkopf.“

Greta wusste darauf nichts zu sagen.

Dass die Serviertochter Mary schwanger war, erfuhr sie erst ein paar Wochen später. Im Nu waren sie und der Jäger verheiratet. Schönes, katholisches Wallis.

16. Der Morgen danach

Am nächsten Morgen machte sie Frühstück. Stefan langte tüchtig zu.

Ich habe heute noch viel vor“, sagte er, während er ein Stück dunkles Brot abbiss. Greta grinste.

Und was bitteschön?“

Ich gehe in den Wald mit den Lehrlingen.“

Sie nickte wissend.

Magst du heute abend mit mir essen?“

Er blickte sie unverwandt an.

Weisst du, Greta. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du spielst mit mir. Ich mag das nicht. Dich mag ich sehr, aber ich eigne mich nicht fürs Schlafen im einsamen Bett.“

Greta schossen die Tränen ins Gesicht.

Dann geh doch einfach besser.“

Er stand auf, nahm die Schlüssel seines Wagens und ging.

Greta blieb zurück.

Sie war beileibe nie eine romantische Seele gewesen. Wer mit ihr ausging, brauchte weder Rosen noch Champagner zu kaufen. Sie war knallhart gewesen. Sexy. Jeder ihrer Ex-Freunde hatte von ihrer Ausstrahlung geschwärmt. Ihrem hübschen Hintern, der Art und Weise, wie sie zu diskutieren pflegte. Keiner hatte sich je beschwert, was ihre Leidenschaft anging. Sex war für sie ein Hobby, kein notwendiges Übel, sondern ein Mittel zum Abbau von Frust und Sex. Sie hatte es geliebt, in Hotelzimmer zu gehen, zu baden und stundenlang herum zu vögeln. In jüngeren Jahren war es kein Thema für sie, es in einer Garderobe oder einem öffentlichen WC zu tun.

Doch seit der Vergewaltigung gab es in ihr nichts mehr, was nach Sex schrie. Bis sie Stefan getroffen hatte. Es war seltsam, so als wenn ihr Körper ein alter Baum wäre, der sich danach sehnt, dass es wieder Frühling wird und er wieder Knospen treibt.

Sie war plötzlich wütend auf Stefan, alle Männer dieser Welt und auf sich.

Vielleicht hätte ich es ihm erklären sollen“, durchfuhr es sie. Im nächsten Moment verwarf sie diesen Gedanken. Wozu sollte sie ihm von ihrer Pein erzählen?

 Sie nahm Renas Leine und ging mit ihr nach draussen. Rena tollte herum und jagte Stöcke, ohne müde zu werden. Die Katze sass auf dem Fensterbrett und blickte den beiden neugierig zu.

Nach dem Spaziergang setzte sie sich ans Laptop. Ihr Chef hatte ihr eine Entschuldigungsmail geschrieben. Es tat ihm leid. Er rechtfertigte sein Verhalten mit Eheproblemen. Sie nickte wissend.

Er schrieb, er würde sie gerne weiter vermitteln, damit sie nicht mehr mit ihm zusammen arbeiten müsste, obwohl er das alles sehr bedauerte. Sie dachte darüber nach. Was wollte sie wirklich?

Sie schrieb ihm zurück, dass sie die Sache vergessen wollte, wenn er sie nicht mehr mit privaten Dingen behelligte. Noch am selben Tag erhielt sie weitere Aufträge.

Am nächsten Tag fuhr sie zu Dora ins Tal hinab. Diese blickte sie neugierig an.

Was ist eigentlich bei euch oben geschehen?“

Was meinst du mit „euch“?“

Na, den hübschen Jäger und dich.“

Greta wurde rot. Vor Wut.

Da ist überhaupt nichts.“

Dora grinste.

Dafür bist du aber gerade sehr emotional.“

Er wollte, dass ich unter seine Decke schlüpfe.“

Und?“

Ich habs natürlich nicht getan.“

Du dämliche Kuh.“

Greta verwarf die Hände.

Bitte nicht du auch noch.“

Was an diesem Mann passt dir nicht? Seine tollen Augen? Sein gutaussehender Körper? Sein wunderbarer Hintern?? Alle Mädchen des Dorfes beneiden dich. Du solltest zugreifen und jede Pore seines Körpers auskosten.“

Dora!“

Sei doch bloss nicht päpstlicher als der Papst, Greta. Er ist nicht nur gutaussehend, der Junge hat ein gutes Herz, ist intelligent und er erträgt deinen Wolf.“

Das ist ziemlich unpassend.“

Bist du prüde oder was?“

In jenem Moment explodierte Greta. Sie schleuderte ihr die gesamte, traurige, furchtbare Wahrheit an den Kopf.Sie schrie ihren Schmerz hinaus. Die Verzweiflung. Die Verletzung. Dora erstarrte. Dann schluchzte.Sie umarmte Greta und weinte.

Greta weinte auch. Die beiden Frauen hielten sich eine ganze Weile fest umschlungen.

Es tut mir leid“, schniefte Dora.

Mir auch“, schluchzte Greta.

Komm, wir nehmen einen Kaffee.“

Sie setzten sich im Hinterzimmer auf ein durchgesessenes Sofa.

Ich hab nichts davon gewusst. Aber ich hab deine Geschichte in der Boulevardzeitung gelesen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass du das bist.“

Greta nickte.

Ich bin so traurig.“

Dora tätschelte ihre Hand.

Es ist doch nicht zu spät. Sei offen zu ihm. Sag ihm alles. So wie ich ihn kenne, wird er damit umgehen können und lieb zu dir sein. Hab keine Angst.“

Drei Stunden und gefühlte 10 Tassen Kaffee später fuhr Greta nach Hause. Sie führte Rena aus und fütterte die Katze.

Sie dachte lange nach, was sie nun tun würde. Sollte sie ihn aufsuchen oder nicht? War sie bereit? Sie zog sich um, tauschte die Alltagskleider gegen eine schöne Jeans und eine weisse Bluse aus. Sie kämmte ihr Hand und band sich ein frisches Tuch um den Hals, damit ihre Narbe nicht sofort sichtbar war. Dann fuhr sie zurück ins Dorf.

Stefan wohnte inmitten des alten Dorfkerns in einem schönen alten Chalet. Licht brannte. Also war er zuhause.

Sie klingelte an der Türe und wartete. Es dauerte einige Minuten, bis Stefan die Türe öffnete. Er trug einen Morgenmantel, sein Haar war etwas lädiert. An seinem Hals leuchtete ein Knutschfleck. Sie räusperte sich, wollte gerade etwas Belangloses sagen, als sie die Stimme einer Frau hörte.

Schätzli, komm zurück. Mir frieren hier langsam die Nippel ab.“

Greta erstarrte. Stefan blickte peinlich berührt. Sie holte aus und knallte ihm eine. Dann fuhr sie nach Hause.

 Daheim angekommen hatte sie fünf Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter. Stefan. Stefan, der sich entschuldigte, der erklären wollte, der langsam ausnüchterte. Stefan, der sich nicht mehr wiedererkannte. Stefan. Scheiss drauf.

Die Katze und der Wolf lagen schlafend in ihren Kistchen, als Greta den Fernseher anstellte. Sie hatte die Schnauze voll.

15. Wohin nur?

Den Job bin ich wohl los“, denkt sie, als sie nach Hause stöckelt. Ihr Vater wartet bereits unruhig auf sie.

Ich habe keine ruhige Minute, wenn ich nicht weiss, wo du bist und wie’s dir geht.“

Greta nickt.

Das Wallis ist weit entfernt, wenn man mit dem Zug unterwegs ist. Dora holt sie mit dem Wagen ab.

Hast du was mit Stefan?“ will sie wissen.

Greta schüttelt lachend den Kopf.

Warum sollte ich?“

Er hat während deiner Abwesenheit auf dein Haus aufgepasst.“

Na und?“

Ich mein ja nur.“

 Dora fährt sie bis vors Haus. Greta steigt aus und dankt ihr.

Bitte gern geschehen.“

Es ist dunkel geworden. Das Haus ist unbeleuchtet. Alles ist still. Für einen Moment lang hat Greta eine dunkle Vorahnung. Sie geht hinein. Nichts bewegt sich.

Rena ist nicht da. Greta weiss nicht, wo ihr der Kopf steht. Ihr ganzer Körper pulsiert vor Angst. Im oberen Stock tritt sie ins Schlafzimmer. Dort liegen sie alle drei gemeinsam im Bett: Stefan, Rena und die Katze. Greta schluckt dir Tränen runter, als Stefan sie verschlafen ansieht.

Er trägt nichts als eine dunkle Boxershorts. Er sieht glänzend aus.

Sie schluckt leer. Er lächelt.

Du kannst dich gerne hinlegen.“

Sie will wieder gehen. Rena jault ein wenig. Greta bleibt. Sie setzt sich hin und lässt sich ins Bett fallen. Stefan lächelt.

Du bist bestimmt mächtig müde.“

Sie nickt.

War’s anstrengend?“

Sie nickt erneut. Was soll sie ihm sagen? „Ja, meinen Peiniger wieder zu sehen, war nicht gerade eine Ferienreise.“

Abstruse Vorstellung.

In einem anderen Leben würde sie sich an ihn kuscheln, seine Brustwarzen küssen und mit der Hand unter die Decke gleiten. Sie würde ihn bitten, ihr den Rücken zu massieren und darauf zu warten, dass er ihre Brüste berührt.

Sie würde sich vorstellen, wie es wäre, mit ihm zu schlafen, ihn zu spüren und am anderen Morgen neben ihm aufzuwachen.

 Doch in diesem Leben wollte sie das nicht wissen. Die blosse Vorstellung darauf, dass irgendjemand sie berühren würde, ohne dass sie es wollte, löste Brechreiz bei ihr aus. Rena blickte sie fragend an. Sie knuddelte die Wölfin, streichelte die Katze.

Leg dich neben mich“, flüsterte er.

Ich kann nicht“, entgegnete sie.

Magst du mich nicht?“

Doch. Sehr. Aber ich kann mich nun einmal nicht neben dich legen. Bitte versteh das.“

Er nickte, machte sich auf, aufzustehen und zu gehen.

Bitte bleib“, flüsterte sie.

Stefan lächelte.

Ich schlafe unten.“

Sie schlich in die Stube nach unten. Rena und die Katze folgten ihr.

14. Eine Nacht in Zürich

Sie wollte zurück in die Berge. Zwar hatte sie ihrem Vater noch versprochen, eine Nacht länger zu bleiben, doch die Sehnsucht nach Rena und der Katze trieb sie um. Auf ihrem Handy geht schliesslich ein Anruf ein. Ihr Vorgesetzter. Ob sie Lust auf Kronenhalle hätte? Und wie!

 Sie zieht ein schwarzes Kleid an. Sie erkennt ihn sofort, ist erstaunt, wie gut er aussieht. Dunkles Haar, leichter Bartschatten, grau-grün-graue Augen. Sie lächeln sich an. Er spricht ein Kompliment aus. Sie nickt.

Sie stossen mit Champagner an. Wunderbar. Dann Vorspeise, Hauptspeise, Dessert. Ein Blick aufs Handy. Stefan schreibt: „Rena hat eben deine Gesundheitsfinken gefressen.“

Greta muss grinsen.

Was hast du denn?“ will er wissen.

Ach, ich hab nur eben eine SMS von meinem Tiersitter bekommen. Mein Haustier hat eben Schuhe zerstört.“

Er lächelt, tätschelt ihre Hand und erzählt ihr plötzlich, wie sehr er sich von seiner Frau vernachlässigt fühlt.

Was soll sie darauf erwidern?

Tut mir leid? Selber schuld! Warum arbeitest du so viel?

Als sie auf die Toilette geht, folgt er ihr. Sie geht schneller. Angst. Tief atmen. Einatmen. Ausatmen. Sie schwitzt stark.

Er blickt sie verwundert an.

Nein, kein One-Night-Stand.

Lass mich in Ruhe. Geh zu deiner Frau.

Den Job bin ich wohl los“, denkt sie, als sie nach Hause stöckelt. Ihr Vater wartet bereits unruhig auf sie.

Ich habe keine ruhige Minute, wenn ich nicht weiss, wo du bist und wie’s dir geht.“

Greta nickt.

13. Die Verhandlung

Am nächsten Morgen kriegte sie eine E-Mail von ihrem Vorgesetzten. Wie jedes Mal bedauerte er ihren Abgang und fragte sie, ob sie bald wieder einmal in Zürich sein würde. Sie hatte keine Lust auf Zürich. Sie hatte jetzt ihre eigene Wölfin. Sie grinste.

Rena wuchs und wuchs. Greta freute sich darüber, als ob sie ihr eigenes Kind wäre. Rena tobte herum, kuschelte und stritt mit der Katze.

 Mit dem Frühling nahte die Verhandlung. Der Typ sass seither in U-Haft. Greta fürchtete sich nicht davor, dem Mann wieder unter die Augen zu treten. Aber etwas war doch anders, in ihrem Leben. Die Angst. Die war da. Der Geruch. Die Narbe an ihrem Hals.

Nicht weiterdenken. Einatmen. Ausatmen. Leben.

 Die Bäume streckten ihre jungen Zweige wie Fühler aus. Überall sprühten die Knospen vor Leben. Es blühte. Rena wuchs weiter und frass wie ein Mähdrescher. Stefan kam alle paar Tage mal zu Besuch und Greta fand es auffällig. Schliesslich fasste sie sich ein Herz und stellte ihm die junge Wölfin vor. Stefan fand das Tier wunderschön. Rena war zutraulich und blickte den jungen Jäger aus treuen Augen an.

Sie wanderten gemeinsam durch den Frühling, immer oberhalb des Weges, damit niemand sie und den Wolf sehen würde. Zwar machten immer mehr Gerüchte den Umlauf, doch es störte sie nicht.

 Schliesslich kam der Tag der Abreise.

Ihr Vater holte sie am HB ab. In seiner Hand hielt er eine rote Rose. Sie fuhren in die elterliche Wohnung. Für die nächsten Nächte würde sie wieder in ihrem Kinderzimmer schlafen. Sie dachte an Stefan, der versprochen hatte, sich während ihrer Abwesenheit um die Tiere zu kümmern. Sie hatte ihm zwar erzählt, dass sie nach Zürich ging, aber nicht wozu. Sie hatte ihm nichts von der Vergewaltigung, den Albträumen und der Vergangenheit erzählt. Das war gar nicht wirklich wichtig.

Die Verhandlung war wichtig. Irgendwie hoffte sie, zu verstehen, warum es gerade sie getroffen hatte und keine andere. Sie war doch gar kein Opfer gewesen, bisher. Sie hoffte auch, dass ihre Ängste ein Ende finden würde, wenn sie sähe, dass ihr Vergewaltiger ein normaler Mensch und kein Monster gewesen war.

Doch davon traf nichts ein.

Vor dem Richter sass ein Mann, dessen einziges Hobby Abhängen und kleine Diebstähle gewesen waren. Ein Mann ohne Perspektive im Leben, ohne feste Freundin, ohne Arbeit, ohne Profil. Er konnte nicht einmal sagen, warum er versucht hatte, Greta den Hals zu zerschneiden.

Sie hörte plötzlich nicht mehr zu. Es interessierte sie nicht, für wie lange der Täter ins Gefängnis und in Behandlung musste. Es war nicht mehr wichtig.

12. Annäherung

Eine Woche später stand Stefan wieder vor ihrer Türe. Das Gerücht, dass die verrückte Zürcherin einen Wolf bei sich im Haus aufzog, hatte sich herumgesprochen. Stefan sah nicht so aus, als ob er das sehr lustig finden würde.

Er brachte ihr ein Paket mit, das bei Dora unten angekommen war. Sie nahm es dankbar in Empfang. Ihr Vater hatte ihr einige Süssigkeiten zukommen lassen. Das fand sie herzig. Sie kam sich vor wie im Ferienlager, damals, im Jura. Ihre Eltern schickten ihr Kuchen, Gummibärchen und Lakritzschnecken.

Sie musste schlucken, um die Tränen zu verdrängen.

Stefan blickte sie fragend an.

Weinst du?“

Sie schüttelte den Kopf.

Ich musste nur gerade an meine Mutter denken. Ich vermisse sie manchmal so sehr.“

Stefan nickte.

Meine Eltern waren mit ihr als Kinder befreundet. Mein Vater war wahrscheinlich damals in sie verliebt, wie fast alle Jungen des Dorfes. Hier hat keiner verstanden, warum sie einfach nach Zürich gegangen ist.“

Sie wollte Malerin werden. Doch bevor sie aufs Konsi gegangen ist, lernte sie meinen Vater kennen und wurde schwanger.“

Sie bat Stefan herein. Sie wusste, dass die Katze und Rena oben schliefen. Sie setzten sich in die Stube.

Hast du keine Geschwister?“

Greta schüttelte den Kopf.

Und du?“

Fünf.“

Sie musste lachen.

Ich hätte gerne Geschwister gehabt. Meinetwegen einen grossen Bruder. Doch es hat nicht sollen sein.“

Sie reichte ihm eine Tasse mit heissem Wasser.

Tee?“

Er nickte, nahm sich einen Beutel Schwarztee.

Bist du verheiratet?“

Siehst du hier einen Mann?“

Aus irgendeinem Grund bist du hierher gezogen.“

Ich will darüber nicht reden.“

Stefan nickte.

Bist du mit jemandem zusammen?“

Er biss sich auf die Lippen.

Ich war es, bis vor ein paar Monaten. Dann war Schluss.“

Das tut mir leid.“

Muss es nicht. Es war ok. Ich wollte sie heiraten. Aber sie wollte mich wohl nicht.“

Greta spürte den Wunsch, seine Hand zu streicheln. Doch sie tat es nicht.

Stefan blickte sie an.

Bist du hier oben nicht einsam?“

Greta schüttelte energisch den Kopf.

Nein. Ich hab ja die Katze.“

Und den Wolf.“

Sie zuckte zusammen.

Woher weisst du?“

Ich weiss es eben einfach. Du bist kein Mensch, der einfach so zuschaut.“

Greta nickte.

Wahrscheinlich. Willst du mir Rena wegnehmen?“

Stefan schüttelte den Kopf.

Nein. Noch weiss ja keiner ausser uns wirklich davon. Noch ist es ein Gerücht.

Er grinste.

Ich hasse den Wolf nicht. Aber ich bin Jäger.“

Ja. Das ist wohl so.“

Sie sassen da und redeten. Irgendwie wünschte sich Greta, dass er einfach bleiben würde. Sie fühlte sich behaglich.Doch dann, ohne es zu merken, sah sie das Messer. Die Tiefgarage. Roch Benzin. Sie schloss die Augen. Post-traumatische Belastungsstörung. Haha.

Ist was mit dir?“

Sie schüttelte halbherzig den Kopf.

Ich bin müde. Ich muss noch etwas arbeiten.“

Ruf mich an, wenn du mal wieder Tee trinken magst.“

Greta brachte Stefan zur Türe. Er gab ihr die Hand. Sie war gross, fest und warm.

11. Katze und Wolf

Der kleine Wolf schlief oft. Wenn er wach war, spielte er mit der Katze. Gemeinsam frassen sie aus dem gleichen Napf, ruhten sich im gleichen Körbchen von getaner Arbeit aus.

Als Greta das nächste Mal zu Dora fuhr, wusste sie, dass sie nichts Gutes erwartete. Dora zog sie nach hinten.

Stefan hat mir erzählt, dass du mit ihm über die Wolfsjagd gestritten hast. Warum tust du das?“

Diese Hinterwäldlerei geht mir nun mal auf den Sack.“

Stefan meint, er sucht noch immer nach dem Wolfswelpen. Es würde qualvoll sterben, wenn er es nicht findet.“

Mein Gott, Dora. wir wissen doch beide, dass er es auch töten wird.“

Du hast es doch nicht etwa bei dir daheim versteckt.“

Greta schüttelte halbherzig den Kopf.

Dora grinste.

Das ganze Dorf wird dich dafür ächten. Hier mag niemand den Wolf.“

Greta zuckte mit den Schultern.

Was sollte ich tun? Zusehen, wie er das Tier schlachtet?“

Stefan ist doch kein Unmensch. Er macht doch auch nur seine Arbeit.“

Ich weiss.“

Er ist ein echt guter Typ. Du bist ungerecht zu ihm, wenn du ihn als Hinterwäldler bezeichnest.“

Dora hatte insofern recht, als dass Greta Stefan eigentlich nett fand.

 Der kleine Wolf und die Katze sassen erwartungsvoll im Flur, als sie mit ihren Einkäufen zurückkehrte. Sie fütterte beide und setzte sich hin. Als nächstes würde sie dem kleinen beibringen müssen, wo er Gassi gehen kann. Da der kleine Wolf ihr auf jeden Schritt folgte, gingen sie zur Birke. Dort wartete sie solange, bis der Wolf gekackt hatte. Sie wunderte sich, wie unglaublich ähnlich er seinem Verwandten, dem Hund war.

Sie spielten im Schnee. Sie warf einen Holzstab und der Kleine stürzte sich darauf. Greta gab acht, dass auch ja niemand bemerkte, mit wem sie da so spielte. Der kleine Wolf liess sich davon nicht stören.

Abends sassen sie zu dritt in der Stube und schauten fern, dicht aneinander gekuschelt. Der kleine Wolf und die Katze vertrugen sich immer besser und manchmal schien es Greta, als wäre es gar nie anders gewesen.

Wenn Schlafenszeit war, ging sie mit dem kleinen nochmals vors Haus. Dann verbrachten sie die Nacht zu dritt im Schlafzimmer.

Greta stand morgens auf, ging mit dem Wolf eine Runde laufen, dann fütterte sie die Katze. Nach dem Frühstück setzte sie sich ans Laptop und schrieb.

Die Zeit verging und sie fand, es war an der Zeit, dass der Wolf einen Namen bekam. Dann bemerkte sie, dass sie noch nicht einmal wusste, ob sie es mit einem Mädchen oder einem Burschen zu tun hatte. Bei der nächsten Pipirunde hatte sie Gewissheit: der kleine Wolf war ein Mädchen. Nach kurzem Überlegen nannte sie den Wolf Rena.

Rena wuchs jeden Tag ein wenig. Greta sah ihr gerne zu. Rena war neugierig, lustig und sehr verspielt.

10. Der Mann und sein böser Wolf

von Anfang an: https://gretaswolfsherz.wordpress.com/2013/03/09/1-greta/

Am nächsten Morgen klingelt es an der Türe. Greta schreckt auf, zieht sich den Morgenmantel über und geht nach unten. Sie macht die Türe zur Stube zu. Katze und Wolf liegen mittlerweile Rücken an Rücken in der Kiste und schlafen.

Stefan steht vor der Türe und wirkt etwas nervös.

Es tut mir leid, dass ich dich frühmorgens störe.“

Worum geht’s denn?“

Darf ich reinkommen?“

Sie wehrt mit der Hand ab.

Nein!“

Es geht um den Wolf, den wir gestern geschossen haben.“

Ja?“

Es war eine Wölfin.“

Na und?“

Sie hatte ein Junges. Es muss hier noch irgendwo sein.“

Er blickt sie unverwandt an.

Ja?“

Hast du das Junge gesehen?“

Nein. Warum? Willst du es etwa auch töten?“

Er zuckte die Schultern.

Wir Walliser mögen den Wolf nicht.“

Und was ihr nicht mögt, das bringt ihr um, oder was?“

Stefan schüttelt den Kopf.

Das verstehst du falsch.“

Ich glaub, ich hab das schon richtig verstanden. Ihr habt vor meinem Haus ein unschuldiges Tier getötet. Das hab ich gesehen.“

Die Wölfin hat den ganzen Sommer über Schafe gerissen.“

Blödsinn. Jeder, der lesen kann, weiss doch, dass ihr viel mehr Schafe durch Stürze auf den Alpen verliert. Ihr seid einfach alles Hinterwäldler.“

Dann knallte sie die Türe zu.

Kopfschüttelnd ging er zu seinem Auto. Er blickte noch einmal zum Haus, dann fuhr er davon.

9. Todesangst

Greta fällt auf die Knie und blickt das tote Tier an. Das Fell sieht zerzaust aus. Der Blick ist gen Himmel gerichtet und starr. Greta rinnen die Tränen herunter.

Geh da bloss weg, du blöde Kuh!“

Hinter ihr steht Stefan. Er ist wütend. Er trägt eine Waffe.

Sie blickt ihn erschüttert an. Sie weiss ganz bestimmt, dass er sie jetzt töten will. Sie hebt die Hände nicht. Dann geht es schnell.

Geh da weg!“

Er zeigt auf den toten Wolf.

Er hat seit einigen Wochen sein Unwesen getrieben.“

Greta blickt den Wolf wieder an.

Er ist so klein.“

Wahrscheinlich eine Wölfin.“

Stefan gibt ihr die Hand. Sie soll endlich aufstehen.

Er bemerkt ihre Fahne, aber nicht ihre Todesangst.

Besoffen in der Kälte herumlaufen ist keine gute Idee.“

Sie nickt.

Zwei andere Jäger stehen plötzlich neben ihnen.

Sie packen den Wolf ein und gehen fort.

Stefan gibt ihr die Hand zum Abschied.

Sorry für die Störung.“

Dann sind sie fort.

Greta bemerkt, dass sie in die Hosen gemacht hat. Sie zittert. Sie bleibt während einer Ewigkeit in der Kälte stehen. Für einen Moment lang glaubt sie das Schreien eines Kindes zu hören. Sie schüttelt den Kopf. Das kann ja gar nicht sein. Doch dann hört sie das Geräusch erneut. Langsam geht sie den Klängen nach.

Vor ihr, verdeckt von dunkeln Ästen, erkennt sie ein kleines Wesen. Seltsam bunte Augen blicken sie an. Greta erstarrt. Will schon um Hilfe rufen, da begreift sie. Sie geht auf die Knie. Vor ihr versteckt sich ein Wolfsjunges. Greta ist verwundert, dass es keine Angst vor ihr hat. Sie riecht schliesslich nach Mensch, Katze und Tod.

Sie streichelt dem Tier über den Kopf. Es blickt sie an. Dann nimmt sie es auf den Arm und geht zurück zum Haus.

Das kleine Tier fürchtet sich nun ein wenig, als ihre alte Katze es mustert, es schliesslich anfaucht. Der kleine Wolf geht einen Schritt zurück. Die Katze buckelt, blickt böse. Der Wolf bückt sich nun auch, kräuselt die Nase. Die Katze holt mit der Pfote aus und haut sie ihm auf die Nase.

Der kleine Wolf rennt heulend weg. Greta geht ihm nach. Er versteckt sich hinter dem Sofa. Sie nimmt ihn auf den Arm und wiegt ihn ein wenig. Dann gehen sie in die Küche. Aus dem Kühlschrank nimmt sie frisches Huhn. Der kleine Wolf macht sich hungrig hinter das Fleisch.

Eine Stunde später liegt der Wolf schlafend in einer Kiste in der Ecke, scharf beäugt von der Katze.

8. Schluss machen. Einfach so.

Am Berg oben ist alles weiss und rein. Die Katze schwänzelt aufgeregt, als Greta zurück kehrt. Sie tätschelt ihren Kopf. Nachdem sie alles weg geräumt hat, setzt sie sich auf Sofa und schmust mit der Katze. Nach einer Weile schluchzt sie und die Tränen rinnen ihr über die Wangen. Sie atmet tief. Doch die Tränen vergehen nicht.

Sie steht auf und holt sich eine DVD.

Highway to Heaven“. Michael Landon und Victor French.

Kindheitserinnerung.

 Am Abend setzt sie sich ans Laptop und schreibt Mails. Ihr Chef hat ihr geschrieben. Ihr von der Firmenparty erzählt. Braun war so voll, dass er die Treppe herunter gefallen ist. Sie fehlt, meint er. Greta findet das nicht.

 Eine Woche später steht ihr Entscheid fest. Sie weiss auch schon, wie sie es tun wird. Schlafmittel. Sie wird einfach einschlafen. Nie mehr Albträume. Sie hat damals im Spital eine grosse Packung bekommen. Alkohol ist genügend vorhanden.

Sie will es am Donnerstagabend machen. Dann fällt es frühestens am Samstagabend auf. Ihr Vater tut ihr leid, aber leider geht es nicht anders.

 Am Mittwoch geht sie einkaufen. Wie immer. Sie verabschiedet sich von Dora. Wie immer. Der Donnerstag ist ein windiger, kalter Tag. Dichte Nebelschwaden ziehen am Haus vorbei. Sie isst mittags wenig.

Um 18h macht sie sich bereit. Die Tabletten liegen bereits da. Die Katze hat genügend Fressen, dass sie bis am Wochenende überlebt.

Sie trinkt einige Gläser Kirsch. Es geht ihr nicht schlecht. Sie fühlt sich irgendwie heiter.

Als sie die Tabletten in der Hand hat, und sie in den Mund legen und runterschlucken will, hört sie einen Schuss. Und dann noch einen.

 Sie stöhnt.

Dann geht sie nach draussen. Etwa hundert Meter vor ihrem Haus sieht sie ein schemenhaftes Etwas. Es ist ein Tier. Ein blutendes Tier.

Sie geht darauf zu. Der Schnee ist tief und sie fürchtet einzusacken. Doch die Neugier lässt sie nicht los. Sie erstarrt. Es ist ein Wolf.