26. Ein neuer Frühling

Am nächsten Tag reiste er wieder zurück. Sie hatte es ihm geraten.

Sie musste daran denken, was er über seine Ex-Frau gesagt hatte. Sie ahnte, nein: wusste, dass er seine Frau noch liebte. Was hätte sie also in einer solchen Beziehung verloren?

Sie hatte keine Lust darauf, zu teilen. Sie hatte auch kein Bedürfnis, als Therapeutin für ihn da zu sein.

Sie kämpfte gegen sich selber. Ihre Unlust, ihre Ängste. Was war sie denn schon? Wo war ihre Lebenslust geblieben? Alles schien hier auf der Strecke zu bleiben und sie konnte es nicht ändern, selbst wenn sie wollte. Sie hatte keine Lust mehr irgendetwas zu tun. Sie war keine Heldin, sondern eine Frau.

Neben ihr auf der Terrasse stand Rena, die zu ihr aufschaute. Greta strich über ihren Kopf.

Ach, liebste Rena. Du bist ein wildes Tier. Du gehörst mir nicht. Du bist frei.“ Sie umarmte die Wölfin, die sie unverwandt ansah.

Rena, du musst gehen.“

Greta stiegen die Tränen in die Augen. Sie machte das Halsband ab.

Bitte, geh. Such dir einen Wolf. Aber bitte geh.“

Rena drehte den Kopf, stubste sie mit der Nase an und trottete ein paar Schritte fort. Dann hob sie ihren Kopf und schnüffelte. Schliesslich ging sie in Richtung Wald.

Greta setzte sich auf den Treppenabsatz und weinte. Die Katze rieb ihren Kopf an ihr.

Einige Monate später, Greta sass an ihrem Laptop und schrieb an einem neuen Manuskript. Es war Frühling geworden. Sie hörte ein seltsames Heulen. Sie stand auf und ging ans Fenster. Unten lag der Wald. Sie öffnete das Fenster und schaute raus. Einige hundert Meter entfernt konnte sie drei Schemen entdecken. Einen grossen Wolf und zwei kleine.

Greta stiegen die Tränen ins Gesicht. Rena war Mutter geworden. Und sie, Greta, gehörte noch immer ins Rudel.

Ende Teil 1

25. Sebastian

Eine Woche später trafen sie sich am Bahnhof von Fnels. Sebastian brachte ihr eine rote Rose mit und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Sie gingen erst bei Dora vorbei, um einen Kaffee mit Kirsch zu trinken. Dann brachte Sebastian seine Sachen ins Gasthaus.

Als sie oben am Haus ankamen, wirkte Sebastian etwas unsicher. Greta liess Rena raus und sie schnupperte freundlich an seiner Hose.

Wirf einen Stecken!“ sagte sie.

Er nahm ein Stück Holz und schmiss es in weitem Bogen fort. Rena rannte wie eine Verrückte hinter dem Holz her und brachte es ihm zurück.

Er streichelte ihren schönen Kopf.

Sie ist einzigartig. Wie kommt es, dass sie so zahm ist?“

Ihre Mutter wurde getötet, als sie noch ganz klein war. Ich hab sie vor den Jägern gerettet. Von Anfang an hat sie sich gut mit der Katze vertragen.“

Sebastian nickte anerkennend.

Hast du keine Angst, dass jemand sie dir irgendwann wegnehmen könnte.

Greta zuckte die Schultern.

Anfangs habe ich sie versteckt. Ein Freund, der Jäger ist, wusste davon. Es ist allerdings nie etwas passiert. Kein Jäger, kein Dörfler hat sich beschwert. Ich glaube, die sind froh, wenn wir sie in Ruhe lassen.“

Am Nachmittag machten sie sich auf den Weg. Sie wanderten gemeinsam dem Höhenweg entlang, Rena lief zwischen ihnen. Plötzlich erstarrte die Wölfin. Sie blickte herunter ins Tal, zuckte mit ihrem langen Schwanz.

Sie setzten sich hin.

Ich hab mir nie überlegt, was ich tun werde, wenn sie einmal beschliesst nicht mehr bei mir zu bleiben.“

Sebastian nickte.

Das hab ich mir eben auch gedacht. Du wirst sie gehen lassen müssen.“

Und was ist, wenn sie einfach erschossen wird wie ihre Mutter?“

Das liegt nicht in deiner Macht, Greta.“

Rena legte den Kopf auf die Pfoten. Greta streichelte die Wölfin.

Sie ist so wunderbar. Wir sind doch ihr Rudel, nicht wahr?“

Ja. Das denke ich auch. Allerdings wird sie sich nach ihren Artgenossen sehnen, nicht wahr?“

Greta beschloss, noch am selben Tag Kontakt mit einem Biologen aufzunehmen.Sie wollte wissen, ob es für Rena eine Qual war, bei ihr zu leben oder ob sie nicht viel glücklicher in der Freiheit wäre.

Abends kehrten sie zurück ins Haus. Sie assen gemeinsam ein Fondue.

Sebastian schien anfangs etwas Mühe mit der Stärke der Käsesuppe zu haben. Er war dankbar für den Klaren, den Greta ihm anbot. Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Wie gefällt es dir eigentlich hier?“

In der Schweiz?“

Sie nickte.

Ist es nicht schlimm, wenn du von deiner Familie getrennt bist?“

Ich wäre sehr gerne in Deutschland geblieben. Aber ich hätte den Druck nicht ausgehalten. Es war eine gute Entscheidung hier her zu kommen. Die Leute sind höflicher, die Kinder sind es auch.“

Vermisst du deine Frau?“

Er blickte sie unverwandt an.

Warum fragst du?“

Weil ich es wissen will.“

Er nickte.

Ja, trotz allem fehlt sie mir. Wir waren fünfzehn Jahre zusammen, davon neun Jahre verheiratet. Ich wünschte mir so, es wäre anders verlaufen.“

Wie?“

Ich hätte sie nicht heiraten sollen. Wir wären glücklich geblieben. Keine Spielchen gespielt, keine übertriebenen Erwartungen.“

Ihr habt kirchlich geheiratet?“

Wir haben ziemlich weiss, mit vielen Freunden und Verwandten geheiratet. Es war nett, aber für meinen Geschmack zu viel Rauschegold. Ich bin eher einfach gestrickt in solchen Dingen. Aber ihr hat es etwas bedeutet. Das war mir wichtiger.“

Greta schluckte eine Träne herunter.

Ihr wart ein echtes Traumpaar.“

Sebastian nickte.

Bereust du es denn nicht, dass du alleine hier her gekommen bist?“

Sebastian verneinte.

Ich brauchte die Trennung. Ich meine, ich bin geflohen vor Deutschland und vor ihr. Ich hätte es nicht ertragen können, sie zu sehen, wie sie glücklich ist.“

Hat sie einen neuen Freund?“

Sie hat es mir nie gesagt, aber ich vermute, dass sie den schon hatte, während sie mit mir verheiratet war.“

Sie stutzte.

Und das hat dir nichts ausgemacht?“

Er zuckte etwas ratlos die Schultern.

Ich war glücklich, dass sie bei mir war, mit mir zusammenlebte. Alles andere hat mich gar nicht interessiert.“

Greta kannte dieses Gefühl. Sie erinnerte sich, dass auch Raymond immer wieder darüber gesprochen hatte, dass ihr Dasein für ihn sehr wichtig sei. Allerdings wunderte sie sich, dass Sebastian an seiner Seite eine ehebrechende Frau duldete.

Und was ist mir dir, Greta? Warum lebst du hier oben wie eine Einsiedlerin?“

Ich habs mir ausgesucht.“

Er nickte.

Das stell ich mir vor. Aber warum? Du könntest in Zürich oder Bern leben. Warum muss es denn gerade Fnels sein? An der tollen Nachbarschaft kann’s ja wohl nicht liegen.“

Ich hab gemerkt, dass mir die Abgeschiedenheit liegt. Ich bin kein Mensch, der sich in Menschenmassen wohlfühlt.“

Ich kenn das. Aber bist du denn nicht furchtbar einsam?“

War sie das wirklich? Konnte man diesen Zustand des für sich selber Lebens wirklich als Einsamkeit beschreiben? Sie schwieg.

Er berührte ihren Arm.

Weisst du, ich beneide dich für deinen Mut. Nicht jeder würde das einfach tun können, hier leben meine ich. Es gehört sehr viel Tapferkeit dazu.“

Könntest du es?“

Er schüttelte den Kopf.

Ich bin kein Einsiedler. Ich bin Lehrer. Ich liebe es, unter Menschen zu sein.“

Ich mag die Menschen schon. Aber nicht alle. Die meisten gehen mir auf die Nerven. Die anderen, irgendwann auch.“

Sie assen schweigend weiter.

Du hast darüber nachgedacht, nicht?“ fragte er.

Worüber?“

Du wolltest mit mir schlafen.“

Sie schüttelte den Kopf.

Du kannst mir glauben, das hab ich bestimmt nicht gedacht.“

Warum nicht?“

Weil ich nicht darüber nachdenke.“

Würdest du es denn wollen?“

Darüber muss ich erst in Ruhe nachdenken.“

Er grinste.

Fährst du mich in den Gasthof?“

Sie nickte.

24. Das Buch

Dora holte Greta in Brig ab. Sie diskutierten angeregt bis nach Fnels. Die Freundin grinste, als sie Gretas Schilderungen über Sebastian Rabe hörte.

Der hat’s dir ja mächtig angetan, oder?“

Greta grinste auch.

Ja. Und schuld daran ist Rena.“

Rena tollte herum wie eine Verrückte, als Greta wieder in die Wohnung trat. Sie leckte eifrig Gretas Gesicht ab.

Du hast mir so sehr gefehlt, meine Kleine!“

Die Katze schmiegte sich ebenfalls an Greta. Auch sie bekam ihre Streicheleinheiten. Zu dritt lagen sie schliesslich am Boden. Dora lachte die drei aus.

Zweieinhalb anstrengende Monate später, das Lektorat war beendet, ging Gretas Buch in Druck. Sie erhielt einige Belegexemplare, von denen sie eines behielt, je eines ihrem Vater und Dora schenkte. Eines behielt sie zurück für Sebastian, der sich bisher nicht gemeldet hatte. Sie fragte sich, woran das lag. Hatte er soviel zu tun? War ihre Zugfreundschaft nicht mehr als das? Hatte er ihr Frau und Kind verschwiegen? War er schwul und hatte nun Krach mit seinem Freund?

Greta wälzte ihre Gedanken wie eine Strassenwalze. Dora schalt sie dafür.

Mein Gott, du hast mit ihm ein paar Stunden gesprochen. Da muss er dich ja nicht gleich heiraten.“

Greta verwarf ihre Hände.

Blödsinn! Wenigstens anrufen könnte er!“

Das könntest du ihn auch.“

Greta schwieg.

Sie verfiel wieder in ihre alten Rituale. Sie stand frühmorgens auf, ging mit Rena laufen und setzte sich schliesslich mit Kaffee und Joghurt an den Laptop und schrieb. Drei Monate, nachdem sie Sebastian im Zug von Hamburg nach Basel kennengelernt hatte, erhielt sie einen handgeschriebenen Brief. Er entschuldigte sich dafür, dass er sie nie angerufen hatte. Er schilderte ihr, dass er zu jener Zeit im Zug mitten in seiner Scheidung steckte. Er dankte ihr, weil ihre Anwesenheit ihn für Stunden vergessen liess, dass sein altes Leben für alle Zeiten vorüber war. Er schrieb ihr, wie sehr er es genossen hatte, mit ihr zu lachen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so glücklich gewesen war. Allerdings konnte er sich auch deswegen nicht dazu überwinden sie anzurufen, weil er es unhöflich fand, sie mit seinen Problemen zu behelligen. Sebastian bat sie, dass wenn sie noch immer Interesse an seiner Bekanntschaft hätte, sie ihn doch bitte anrufen möge.

Das tat sie, widerwillig. Sie war ein wenig aufgeregt, als sie seine Nummer wählte. Schliesslich konnte sie seine ruhige Stimme hören. Sie redeten nicht wirklich viel. Stattdessen lud sie ihn nach Fnels ein. Er sollte sich ein Hotelzimmer im Bären nehmen und sie könnten gemeinsam wandern gehen.

23. Heimwärts. Im Zug.

Sie hatte bis Hannover das Abteil für sich alleine. Kein Kindergeschrei, keine nach Bac classic riechenden alten Damen. In Hannover stieg ein Fahrgast ein. Mitte Vierzig, gut gekleidet, distinguiert. Bis Göttingen sprachen sie beide kein Wort.

Dann fiel sein Blick auf ihre Brieftasche, aus der ein Foto herauslugte.

Ihr Hund?“

Sie lächelte und drückte das Bild an sich, bevor sie es ihm gab.

Meine Wölfin.“

Er schluckte leer.

Wie bitte?“

Ich lebe mit einer jungen Wölfin zusammen.“

Das klingt aber spannend.“

Er beugte sich zu ihr vor und reichte ihr die Hand.

Sebastian Rabe.“

Greta.“

Er lächelte sie freundlich an.

Sie sind Tierpflegerin?“

Sie lachte laut.

Nein. Eigentlich bin ich…“

Sie stockte.

Ich weiss nicht recht, was ich bin. Ich denke, ich bin Schriftstellerin.“

Sie sass da und überlegte sich, was sie eben gesagt hatte. Ihr war plötzlich klar, dass sie sich mit nichts richtigem mehr, ausser dem Wolf, identifizierte. Greta war irgendetwas. Vielleicht eine Frau. Vielleicht auch nicht.

Sebastian blickte sie an.

Sie sind also eine Schriftstellerin, die mit einem Wolf zusammenlebt. Sie sind Schweizerin, das höre ich gut heraus.“

Und was sind Sie, Sebastian Rabe?“

Ich arbeite als Lehrer.“

Was tun Sie in diesem Zug?“

Ich fliehe.“

Wie bitte?“

Ich fliehe in die Schweiz.“

Sie grinste.

Ach ja?“

Er nickte.

Ich habe eine Stelle im Berner Oberland. Gymnasium.“

Ich wohne in Fnels, im Wallis.“

 Sie redeten über die Schweiz, Deutschland und das Lernen. Greta konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal mit einem Mann so nett und anregend unterhalten hatte. Sebastian war kultiviert und hatte eine Ahnung vom Leben.

Er erzählte ihr von seinen Sorgen, dem Stress an deutschen Schulen und der Tatsache, dass sein Beruf sich immer mehr zum Überlebensjob entwickelte.

Greta erzählte ihm von Fnels, ihren Freunden und von Rena. Sie strahlte, wenn sie von ihrer Wölfin sprach. Rena. Rena, die wunderbare. Rena, die Talentierte. Rena, der Mittelpunkt ihres Lebens.

Schliesslich kamen sie in Basel an und stiegen um in den Zug nach Zürich. Noch würden sie eine ganze Weile sprechen können. Sie stellten ihre Koffer hin und setzten sich. Der Minibar-Mann schenkte ihnen ein Glas warmen Rotwein ein. Sie prosteten sich zu. In Zürich wechselten sie in den nächsten Zug. Er würde in Bern umsteigen, sie in Brig. Während die Lichter, die kleinen Dörfer an ihnen vorbei zogen, unterhielten sie sich. Im Abteil neben sass eine Dame mit Handy, die sehr laut sprach. Sie kicherten, als wären sie Teenager.

 Dann kam Bern. Sie verabschiedeten sich wie gute alte Freunde. Sie umarmten sich. Über 12 Stunden hatten sie miteinander verbracht. Sie waren Verbündete.

Sebastian versprach ihr, sich bald bei ihr zu melden. Er würde ihr schreiben, wie es an seiner neuen Stelle so lief. Sie tauschten ihre Handynummern aus.

22. Erinnerungen

Sie musste an einen ihrer ersten Freunde und Gönner denken.

Er hiess Raymond. Franzose. Ein stattlicher Mann. Elegant. Er trug an jedem seiner Finger einen Ring.

Greta war nie ein Heimchen gewesen. Doch Raymond machte sie schwach. Sie mochte es, mit ihm essen zu gehen, zu trinken und nachher guten, altmodischen Hausfrauensex zu haben. Er hatte sie heiraten wollen. Eine anständige Frau aus ihr machen. Herumreisen. Gut essen. Alles, was eine gute Ehe ausmacht.

Raymond war kein Despot im eigentlichen Sinne gewesen. Eigentlich war er in ihren Augen immer ein unglaublich sanfter Mann gewesen. Doch da war seine Mutter. Sie hasste Greta vom ersten Augenblick an. Greta war in ihren Augen konsumgeil, unbescheiden und arrogant. Sie war ihr nicht gut genug.

 Das konnte ja nicht gut gehen, dachte Greta. Sie lächelte.

Sie hatte sich nach einigen Jahren von Raymond getrennt. Sie konnte seine Sprache nicht mehr ertragen. Dann angelte sie sich von Mann zu Mann. Sie liebte Männer jeglichen Aussehens und aller politischen Richtungen. Da waren noch einige Grüne darunter, aber die waren nicht der Rede wert, was wohl hauptsächlich an ihrem Auto gelegen hatte.

 Sie dachte an jene Nacht, bevor es passierte. Die Nacht vor der Vergewaltigung. Sie war ausgelassen gewesen. Betrunken. Die Katze hatte im Bett geschlafen.

Sie waren wie besinnungslos übereinander her gefallen. Sein Hintern war hübsch gewesen. Sie mochte ihn. Er mochte ihre Brüste. Sie liebten sich.Einmal. Zweimal. Dreimal. Sie hatte ihren Orgasmus gehabt. Zum letzten Mal für lange Zeit.

 Greta heulte sich in den Schlaf. Morgen würde sie wieder nach Hause fahren, in die Heimat. Sie eignete sich nicht fürs Reisen. Sie eignete sich auch nicht fürs Zusammenleben mit anderen Menschen. In diesem Punkt hatte Rena ihr etwas voraus. Sie war ein Wolf. Wölfe waren Rudeltiere. Sozial. Stark. Greta fühlte sich definitiv weder als das eine noch als das andere.

21. Auf nach Hamburg!

Dora war auf einmal wie verwandelt. Plötzlich verkaufte sie neben ihren typischen Walliser Produkten auch Fischkonserven. Sie wandelte wie auf Wolken, schien zu vergessen, dass es neben dem Geliebten in der Ferne auch noch ihre Kunden gab. Diese hatten sich zwar an die Launenhaftigkeit ihrer Krämerin gewöhnt, doch die Hormon geschwängerte Luft im Laden machte allen Mühe.

Greta wurde von ihrem Verleger nach Hamburg eingeladen. Dora hütete in dieser Zeit das Haus, die Katze und den Wolf.

Hamburg schien Greta das Grossartigste, was sie in den letzten Jahren gesehen hatte. Sie war begeistert vom Hafen, den Menschen und den unendlichen vielen Häusern. Am Bahnhof wurde sie von Horst abgeholt, der sie herzlich begrüsste und überall herumführte. Sie brachten ihren Koffer ins teure Hotel.

Nach diesem ereignisreichen Tag fiel sie todmüde ins Bett. Sie räkelte sich noch zweimal kurz in ihren weichen Laken, dann schlief sie ein.

Am nächsten Morgen ass sie im Bett. Ein wunderbares Frühstück mit Eiern, Croissants, Speck und Champagner. Sie kam sich vor wie die Königin von Saba.

Um zehn Uhr klopfte es an ihrer Zimmertüre und Horst trat ein.

Du bist ja noch immer im Pyjama.“

Sie grinste.

Ich geniesse es sehr.“

Horst setzte sich auf den Bettrand.

Der Chef will dich heute kennenlernen.“

Ich bin bereit für alles.“

Horst lächelte.

Das wär doch schön.“

Für einmal zog Greta keine Jeans, sondern ein dunkelgraues Kleid an. Sie steckte ihr dunkelblondes Haar hoch. Zum ersten Mal seit über einem Jahr schminkte sie sich wieder. Der Lidstrich gelang ihr noch immer. Lippenstift. Nicht allzu auffällig.

Horst und Greta fuhren ins Büro des Verlegers. Sie hatte ein hässliches Hochhaus erwartet. Stattdessen betraten sie die Eingangshalle eines alten Hauses.

Dieses Haus hat den Feuersturm überlebt?“

Horst nickte.

Sie schloss die Augen.

Der Verleger war ein älterer Herr, nicht unfreundlich, gut situiert. Er erinnerte sie ein wenig an Sigmund Freud. Er bot ihr eine Tasse Kaffee an und plauderte mit ihr über das Wallis. Er sei mit seinen Enkeln öfters in Saas Fee zum Ski fahren. Greta grinste.“

Kommen Sie doch mal auf einen Kaffee vorbei.“

Sigmund Freud lächelte.

Dann lernen Sie mich, meine Freunde und meinen Wolf kennen.“

Dem alten Herrn fiel fast die Tasse aus der Hand.

Wolf??“

Ja. Ich lebe mit einer Wölfin zusammen.“

Horst musste seinem Chef die Herztabletten reichen. Greta indies fuhr zurück zum Hotel. Sie hatte Heimweh. Sie wollte zurück zu Rena, ins Wallis, zu ihren Freunden.

Sie dachte über die Wölfin nach, ihre nicht-existente Romanze mit Stefan. Was würde sein? Würde sie je geheilt werden? Würden ihre Narben jemals zuwachsen? Oder würden sie wuchern?

Greta legte sich in ihr grosses Bett. Sie musste daran denken, dass sie noch vor einem Jahr unbekümmert und frei herum gewuselt war. Sie war glücklich gewesen ohne es zu wissen.

Sie hatte ihre Steuern bezahlt, in einer tollen, teuren Wohnung gewohnt und immer an der Seite irgend eines gutaussehenden Mannes geschlafen. Sie hatte jede Menge Geschenke bekommen; Schmuck, ein Auto, neue Möbel. Greta hatte nie darüber nachgedacht, dass sie einmal nicht mehr glücklich sein könnte. Kein Mensch, keine Frau, rechnet damit, dass er am heiter-hellen Tag in einer Tiefgarage vergewaltigt wird. Sie musste nachdenken. Vergewaltigt. Sie hatte sich früher nie vor diesem Wort gefürchtet. Es bedeutete lediglich, dass einem Gewalt angetan wurde. Nur Gewalt.

Doch nun wusste sie mehr. Gewalt. Würde.

Ein Opfer verliert nicht nur die Integrität seines Körpers, sondern vor allem seine Würde. Greta öffnete die Minibar. Sie nahm eine kleine Flasche Pommery, schenkte sich ein.

Der erste Schluck Champagner seit über einem Jahr. Er prickelte in ihrem Gaumen.

20. Aufbrüche

Rena war mittlerweile fast zwei Jahre alt und hatte sich zu einem prächtigen Tier entwickelt. Sie liebte es, mit der alten Katze zu kuscheln oder mit Greta zusammen durch den Wald zu joggen. Sie war geschickt und schlau. Greta machte Fotos von der Wölfin, die sie vergrösserte und im Flur aufhängte.

Der Tag, an dem sie ihr Buch in Händen hielt, kam ihr vor wie ein Geburtstag. Sie war sehr stolz auf sich. Sie liess ihrem Vater ein Exemplar zukommen. Dieser las es innerhalb von drei Tagen durch. Sie telefonierten.

Ich bin sehr stolz auf dich, mein Mädchen. Wenn das deine Mutter noch erlebt hätte…“

Stimmt. Das wäre schön gewesen.“

Ich muss mit dir über deine Mutter sprechen.“

Ja?“

Weisst du, sie war ein ganz besonderer Mensch.“

Das weiss ich.“

Wir haben uns in jungen Jahren versprochen, wenn einer von uns beiden geht, bleibt der andere nicht aus Trauer ein Leben lang alleine. Ich habe sehr lange getrauert. Doch jetzt habe ich mich wieder verliebt.“

Greta traten die Tränen in die Augen.

Ja?“

Es ist meine Nachbarin, Rosa.“

Greta weinte.

Ist das sehr schlimm für dich, mein Kind?“

Ach, was. Ich bin so froh, dass du endlich nicht mehr alleine bist. Das war so schlimm.“

Ihr Vater weinte nun auch.

Ich komme dich alsbald mit Rosa besuchen.“

Dass Stefan ein paar Nächte später vor ihrem Haus stand, verwunderte sie nicht. Dass er sturzbetrunken war, schon. Er bat sie um Verzeihung. Nach all den Monaten. Lautstark. Rena knurrte.

Bleib bloss weg“, brüllte Greta herunter, „sonst ruf ich die Polizei.“

Greta erhielt einen handgeschriebenen Brief von ihrem Boss, der ihr auf drei Seiten das Drama seiner Ehe schilderte und die Tatsache, dass er nun geschieden sei. Punkt. Sie war nicht verwundert. Was sollte sie ihm sagen? Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Er bat sie um ein Treffen. Sie wollte das nicht.

Die Ereignisse überschlugen sich. Mary, die Serviertochter aus dem Bären, war in ihren Suzuki gestiegen und zu Greta hinauf gefahren.

Ich muss mit dir reden.“

Greta wollte das nicht.

Die Serviertochter hielt ihr das Kleinkind unter die Nase.

Das ist mein Kind. Neun Monate lang war Stefan stolz darauf. Und jetzt lehnt er es ab. Er ist noch immer in dich verknallt.“

Greta zuckte die Schultern.

Ich jedenfalls bin nicht in ihn verliebt.“

Gib mir den Vater meines Kindes zurück.“

Ich hab ihn dir nicht genommen.“

Mary wurde rot vor Zorn.

Ich war immer in Stefan verliebt. Aber der hat mich mit dem Arsch nicht angekuckt. Erst als er geschnallt hat, dass er bei dir nicht landen kann, ist er angekrochen gekommen. Ich hab ihm gegeben, was er sich gewünscht hat.“

Dann sag ihm das doch bitte selber.“

Wo ist er?“

Bestimmt nicht bei mir.“

Die andere packte ihr Baby wieder in die Tasche und rannte zu ihrem Auto.

Verrücktes Volk, dachte Greta.

19. Der Horst

Eine Stunde später assen sie Rösti mit Raclettekäse überbacken, dazu ein Glas Dôle.

Ich liebe die Schweizer Küche.“

Sie stimmte ihm zu.

Mögen Sie Deutschland?“

Sie zuckte die Schultern.

Ich war nie da.“

Ein wenig Fett vom Käse rann ihm aus dem Mundwinkel.

Hier oben ist alles sehr urchig.“

Sie gab ihm Recht.

Sie stellte ihm schliesslich Dora vor, die ihm gleich ein Glas Aprikosenschnaps anbot. Horst leerte das ganze auf Ex runter. Dora starrte ihn an, dann brach sie in lautes Lachen aus.

Sie sind mir ja vielleicht einer.“

Horst grinste.

Sie sassen den ganzen Abend im Laden und tranken. Dora verstand sich auffällig gut mit dem Herrn aus Hamburg. Es schien Greta mit einem Mal, als seien sich die Walliser und die Hanseaten gar nicht unähnlich. Dora und Greta brachten Horst zu zweit in den Bären. Auf dem Heimweg lachten sie beide.

Weisst du, Greta, der erinnert mich irgendwie an jemanden, den ich mal gekannt habe.“

Greta nickte.

Ja. Zwischen euch beiden hat’s gehörig gefunkt.“

Findest du?“

Ja. ich hab die Funken stieben gesehen.“

Im Dunkel der Nacht konnte Greta nur erahnen, dass Dora errötete.

Nach zwei Tagen reiste Horst Michel wieder ab. Dora war untröstlich. Greta hatte ihre Freundin noch nie so glücklich gesehen wie in den vergangenen Tagen. Ihr schien, als sei sie mit einem Mal verjüngt. Insgeheim war sie neidisch. Sie wünschte sich auch, sich so verlieben zu können, zu lachen, zu flirten.

Dora und Horst versprachen sich, einander gegenseitig zu schreiben.

In ein paar Wochen würde er zurück kommen und sie wieder besuchen.

Zwei Wochen später war die Niederkunft von Stefans Frau. Der Aufschrei im Dorf war riesig, als sich herausstellte, dass das Neugeborene dunkelhäutig war. Greta empfand grosses Mitgefühl mit der Mutter, die man nun wohl nicht wirklich nett behandeln würde.

18. Das Manuskript

Ihr Manuskript war nach zwei Monaten fertig überarbeitet. Sie war selber überrascht. Da sie wusste, dass ihr Chef einige Beziehungen zu Verlagen pflegte, für die er Werbung machte, schickte sie ihm das Manuskript zu. Er erklärte sich sofort bereit, es einigen passenden Verlegern zukommen zu lassen. Ohne eine Gegenleistung zu verlangen, selbstverständlich.

 Nach weiteren vier Wochen bekam sie eine Antwort. Der Chef eines Verlagshauses wollte ihr einen Agenten vorbeischicken, der mit ihr die weiteren Schritte besprechen würde. Greta und Dora stiessen an jenem Tag mit Champagner an.

Santé!“ rief Dora.

Greta schluckte den perlenden Saft herunter. Sie konnte es nicht glauben; sie würde ein Buch veröffentlichen!

 Greta war einigermassen nervös. Sie hatte mit dem Agenten ironischerweise im Bären abgemacht, da dieser auch dort übernachten wollte. Greta hatte einen geschleckten Herrn mit Menjou-Bärtchen erwartet. Am Tisch in der Ecke sass ein Mann Mitte 50, der eher wie ein Buchhalter, denn wie ein Literatur-Vermittler aussah.

Er stand auf und begrüsste sie mit dargebotener Hand. Er war einen halben Kopf kleiner als sie.

Freut mich, Sie kennenzulernen.“

Nennen Sie mich einfach Greta“

Dann nennen Sie mich bitte Horst.“

Sie nickten.

Sind Sie hier aufgewachsen, Greta?“

Sie schüttelte den Kopf.

Nein. In Zürich. Meine Mutter stammte von hier.“

Er grinste.

Sehr ländliche Gegend. Gefällt es Ihnen hier? Ich meine, Sie müssen zwei Stunden fahren, bis Sie ins Kino gehen können.“

Kino ist beileibe nichts Wichtiges für mich. Ich bin froh, dass es ein Geschäft gibt. Alles andere kriege ich auch so.“

In jenem Moment kam die Serviertochter, Stefans Frau, daher und wollte die Bestellung aufnehmen. Ihr Bauch war riesig. Sie funkelte Greta unfreundlich an.

Und? Was darf’s sein?“

Ein Kaffee crème.“

Die andere latschte davon, betätigte die Kaffeemaschine und stellte Greta die Tasse mit soviel Energie hin, dass ein Teil des Kaffees auf dem Unterteller landete.

Opala!“ sagte Horst, „sind wir ein bisschen ungeschickt?“

Die Serviertochter warf ihm einen todbringenden Blick zu.

Greta konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Hier oben sind wir alle sehr empfindlich.“

In der Küche klirrte es als Antwort.

Horst räusperte sich.

Wissen Sie, wir haben Ihr Buch gelesen. Das heisst, ich habe es gelesen und finde es sehr eindrücklich. Es ist poetisch und gleichzeitig sehr lebensnah.“

Greta nickte.

Freut mich, dass es Ihnen gefällt.“

Wir werden es übernehmen, denn wir versprechen uns, dass es ein grosser Erfolg wird. Können Sie damit leben?“

Sie blickte ihn überrascht an.

Wie meinen Sie das?“

Sie werden berühmt. Viele Menschen werden Sie nachher kennen.“

Sie winkte ab.

Ich will nicht berühmt werden. Auch nicht reich.“

Horst blickte sie neugierig an.

Wollen Sie nicht?“

Nein.“

Horst nestelte nervös in seinen Unterlagen.

Sie wollen ihr Buch unter einem Pseudonym veröffentlichen?“

Sie nickte.

Notfalls ja.Ich mags nicht, wenn Menschen mich anstarren.“

Das ist natürlich eine neue Ausgangslage. Lassen Sie mich kurz überlegen.“

Er lehnte sich zurück und starrte an die Decke. Er hielt sich seinen Zeigefinger auf die Lippen.

Das sollte gehen. Wir könnten das Marketing auf dieser Tatsache aufbauen.“